Frage: Herr Kambor-Wiesenberg, vor wenigen Tagen haben Sie ein neues Werk veröffentlicht, was Sie selbst als Meilenstein, sehr selbstreflexiv und extrem gelungen bezeichnet haben. Warum vermitteln Sie dann mit dem Titel, dass es offensichtlich mangelhaft ist?
Antwort: Das Bild heißt: „Das ist nicht die ganze Wahrheit.“, weil ich die ganze Wahrheit nicht kenne, aber finde, dass das Bild ziemlich nah dran ist.
Frage: Warum ist es ein Meilenstein?
Antwort: Der künstlerische Schaffensprozess eines Menschen [1]Mensch ist an dieser Stelle bewusst gewählt, denn ganz im beuysschen Sinne ist jeder Mensch ein Künstler. verändert sich mit seiner Arbeit. Man lernt dazu, lernt neue Techniken, lernt etwas über seine Umgebung und sich selbst. Künstler oder Kreativität auslebende Menschen werden das möglicherweise besser verstehen als andere. Es gibt Momente, da machst Du etwas unterbewusst oder Du machst etwas unterbewusst anders. Dann schaust Du Dir das an und denkst: aha das hast Du also gerade gemacht. Dass passt aber wie die Faust aufs Auge.
Ich habe etwas gemacht, ohne über jeden Schritt nachzudenken, ohne zu testen, ohne zu wissen was das Resultat meines Handelns ist. Fragen wie: Was machst Du da gerade? oder Was soll das werden? Würden an dieser Stelle ohne Antwort bleiben. Vorher hätte ich nicht sagen können, dass es so wird und auch während des Prozesses hätte ich nicht sagen können wie das Ergebnis aussieht. Am Ende jedoch konnte ich klar sagen, dass diese Arbeit intuitiv richtig ist. Diese Tiefe der Erkenntnis hatte ich bisher nicht. Aus diesem Grund ist diese Arbeit für mich ein Meilenstein im künstlerischen Werkprozess. Ich kann nicht beurteilen, ob andere Menschen das auch sehen können.
Frage: Was sehen wir auf dem Bild?
Antwort: Zentraler Bestandteil ist ein aktuelles Portrait was meine gute Freundin Sandra auf einer Party von mir gemacht hat, als ich meine Kamera für einen Moment aus der Hand gelegt hatte. Das Bild gefällt mir, weil der Gesichtsausdruck so ambivalent ist. Die Basisemotionen Freude, Überraschung, Angst und Traurigkeit kann ich da problemlos hineininterpretieren. Normalerweise braucht man dafür vier Fotos.
Der Hintergrund ist eine Frottage, eine alte Drucktechnik die das Bild aufteilt. In den oberen Teil, die „Gedanken- oder Phantasiewelt“ und den unteren Teil, die „Realität“. Die Grenze verläuft fließend am oberen Kopfteil. Während die Realität mit chaotischen Linien durchzogen ist, zieht die Gedankenwelt gerade fast parallele Linien nach oben, die das Fehlen von Gravitation und eine gewisse Leichtigkeit suggerieren. Die Gravitation ist eine der vier Grundkräfte der Physik, die symbolisch auch in diesem Bild auftauchen, allerdings fürchte ich um die Leser, wenn ich anfange über die fundamentalen Wechselwirkungen zu sprechen. Wir lassen das Thema besser aus, um nicht schon vor der Kernaussage auszufransen.
Im Realitätsteil gibt es aus Legosteinen gesetzte Gebilde. Sie stehen als Metapher für die Regeln der Realität. Du hast zwar in Form und Farbe unterschiedliche Steinchen zur Verfügung, kannst Dich aber trotzdem nur in einem definierten Rahmen entfalten. Sei kreativ, aber bitte nicht zu sehr. Du darfst in der Realität nur die Steinchen benutzen um Deinen Weg zu gehen, Dein Ziel zu erreichen. Fange nicht an die Steinchen anders als vorgesehen zu benutzen und finde auch nichts anderes, dass die Steinchen ersetzt oder ersetzen könnte. Uniformität trotz Kreativität oder positiv ausgedrückt: Kreativität trotz Uniformität. Das Ziffernblatt einer Rolex verstärkt die Aussage, denn vermeintlich ist die Markenuhr total individuell, aber genau betrachtet ist sie das Gegenteil. Eine Uniform für eine ganz spezifische Sorte Mensch. Ohne Wertung.
Die Uhr an sich, ist auch eine alte Metapher. Du sollst keine Zeit verlieren, die Zeit läuft (ab), Dein Leben ist endlich und so weiter. Viel interessanter ist die Tatsache, dass die Uhr ganz klar im unteren „Realteil“ ist und auf einem Sockel aus den oben genannten Legosteinen steht, der zu kippen droht. Achtung Metapher: Etwas auf einen Sockel stellen ist gleich mehr Wichtigkeit. Wenn der Sockel kippt, erzeugt die Uhr dann ein „BÄM“ in der Phantasiewelt beim Aufschlag oder ist es eher ein „BÄM“ was für den Erkenntnisgewinn steht? Sozusagen, weil der Sockel aus „Lego-Regelsteinchen“ mit der Uhr kippen muss oder sollte.
Frage: Was macht die Frau da?
Antwort: Warum die mit Markenpumps und passender Clutch uniformierte Dame ein Loch in die Steine tritt sagt etwas über mein Verhältnis zu Frauen aus. Frauen sind und waren in meinem Leben immer wichtiger als Männer. Ich bin fast ausschließlich von, durch und mit Frauen aufgewachsen. Ich wurde von Frauen erzogen. Ich habe deutlich mehr Freundinnen als Freunde und behaupte auch im Schnitt besser mit Frauen als mit Männern klarzukommen. Von Männern wurde, werde und bin ich im Wesentlichen enttäuscht. In meiner Welt sind Frauen die besseren Menschen. Das ist sexistisch, aber ich stehe dazu. Zurück zum Bild. Die Dame tritt die Wand aus Regeln verkörpernden Legosteinen ein. Das hat eine befreiende Symbolik und zugleich etwas Anschiebendes, Motivierendes. Möglicherweise lehne ich an der Wand aus Regeln, weil es gerade bequem ist und diese Wand muss zerstört werden, um wieder in Bewegung zu kommen. Vielleicht ist das auch erst die Vorbereitung für die Dinge die da kommen. Sie will durch die Wand, um sich auf mein Gesicht zu setzen und zu schreien: „Leck meine Pussy Süßer!“ oder sie wirft die Uhr vom Sockel, um ihn sich in den Po zu stecken. Genaueres weiß Dr. Freud.
Frage: Trotz freiem Geist, sind die „Regelklötzchen“ auch in Ihrem Kopf. Meinen Sie damit, dass wir alle Regeln im Kopf haben müssen, um in der Realität zu bestehen?
Antwort: Klar. Ein Symbol für das Angepasst sein. Das jemandem vorwerfen ist leicht. Ich finde es super, dass ich das hier bei mir selbst machen kann. Ich bin ja ein Paradebeispiel für den angepassten Vollarsch. Ich belüge mich praktisch täglich. Ich arbeite mit Personen zusammen die ich zutiefst verabscheue, ich verdiene Geld mit Tätigkeiten die nicht meinen großen Zielen dienen und die mir keinen Spaß machen. Ich rechtfertige dieses Verhalten damit, dass ich ja sonst die Miete für mein Atelier nicht bezahlen könnte und dann könnte ich keine Kunst machen oder nur Kunst die von meinen Auftraggebern diktiert wird. Das ist einer meiner ewigen inneren Konflikte. Freie Kunst zu machen ohne von irgendeiner Instanz abhängig zu sein ist ein Zustand, der hart erkämpft werden muss. Ich habe diesen Zustand erreicht. Ich kann künstlerisch machen was ich will, aber nur, weil das Geld dafür aus einer ganz anderen Ecke kommt. In einem anderen Leben muss ich mich „Prostituieren“ und es aushalten, Spielball von Gesellschaft, Politik und Konventionen zu sein, um in meinem Künstlerleben frei zu bleiben. Kunst ist der Spiegel der Gesellschaft. Mal angenommen, es kommt monatlich Geld vom Himmel gefallen und ich muss mich nicht mehr in der Geldverdienmaschinerie zerreiben. Wessen Spiegel bin ich und was reflektiere ich dann? Werde ich dann zum Selbstzweck, zum Kunstverein Kambor-Wiesenberg? Ich produziere meine eigene Kunst, die ich dann für mich selbst ausstelle? Vielleicht ist meine momentane Situation aus Sicht des künstlerischen Freiheitsaspekts schon das Optimum? Die Klötzchen im Kopf spielen jedenfalls eine wichtige Rolle.
Frage: Was ist ihnen noch wichtig?
Antwort: Im Teil der Gedankenwelt tummeln sich Bälle aus dem Bällebad, die sich farblich zwar an den Steinen aus der Realität orientieren, aber frei im Raum herumdiffundieren und das ist der Unterschied. Während in der Realität das Zusammenstecken vordefinierter Gebilde quasi verpflichtend ist, weil man das ebenso macht, so ist es in der Gedankenwelt überhaupt nicht möglich. Ein toller Gegensatz. Manchmal können Einschränkungen befreiend sein und manchmal ist absolute Freiheit beschränkend.
Frage: Eingangs erwähnten Sie, dass die Entstehung des Bildes besonders war. Was ist so besonders an der Entstehung des Bildes gewesen?
Antwort: Der Schaffensprozess stand im kompletten Gegensatz zu meiner sonstigen Arbeit. Wenn ich z.B. ein IT-System plane, wird von mir erwartet, dass ich möglichst genau sagen kann, wie es am Ende wird und wie es sich in bestimmten Situationen verhält. Bei dem Bild war das nicht so. Das Thema war ursprünglich „Hirngespinst“ und die grobe Idee nimm ein Portrait und mach eine lustige Frisur. Ich habe angefangen und dann hat sich das Bild so entwickelt. Das bestätigt auch, was ich den Leuten immer predige. Mach irgendetwas was ungefähr mit dem zu tun hat, was Du erreichen willst. Suche die Richtung und geh los. Wichtig ist, dass Du losgehst und nicht stehen bleibst bevor Du meinst, dass Du fertig bist oder entschieden hast abzubrechen.
Frage: Kann man das Bild in nächster Zeit im Original irgendwo sehen?
Antwort: Ja. Am 13. Juli 2015 wird die Gruppenausstellung „Gegensätze“ in Stuttgart eröffnet, bei der vier oder fünf Studienkollegen und ich aktuelle Werke zu diesem Thema präsentieren. Da wird „Das ist nicht die ganze Wahrheit“ auf jeden Fall zu sehen sein. Ansonsten auch bei mir im Atelier, solange es nicht verkauft ist oder geklaut wurde (zwinkert).
Frage: Wurde denn schon einmal eines Ihrer Werke gestohlen?
Antwort: In der Tat. Im letzten Monat wurde das Werk: „Das musste mal raus. (Kritzelbild 03/2015)“ [2]Twitter: https://twitter.com/stkw_/…, [3]Flikr: https://www.flickr.com/… & https://www.flickr.com/… aus halböffentlichen Räumen in Stuttgart entwendet. Viel kann ich dazu nicht sagen, da Ermittlungen laufen. Ich interpretiere das aber als großes Kompliment. (Nachtrag 23.04.2015: Das Bild wurde inzwischen anonym zurück gegeben.)
Frage: Haben Sie noch weitere Anmerkungen zum Bild: Das ist nicht die ganze Wahrheit?
Antwort: Es gibt Details, die man noch weiter ausführen könnte. Ist der Balken auf dem Kopf ein Phallussymbol? Es sieht aber auch aus wie ein Bauhaus-Männchen. Die Hüte. Das Krönchen. Die roten Spritzer. Aber es soll aber auch noch Interpretationsspielraum übrig bleiben.
Frage: Interpretationsspielraum ist der Titel eines Bildes von Ihnen aus dem Jahr 2011.
Antwort: Ja, aber das ist ein anderes Kapitel.
Verweise / References
↑1 | Mensch ist an dieser Stelle bewusst gewählt, denn ganz im beuysschen Sinne ist jeder Mensch ein Künstler. |
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↑2 | Twitter: https://twitter.com/stkw_/… |
↑3 | Flikr: https://www.flickr.com/… & https://www.flickr.com/… |
via facebook: ein informatives interview, danke
via facebook: selbstreflexiv! das klingt wie aus der werbung eines fitness-studios :D
aha! hab mich auch schon gewundert…
via facebook: meine reflexe sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren ;)
via facebook: ok, das macht jetzt natürlich sinn
via facebook: das interview ist echt lesenswert, cool
via facebook: das bild erinnert mich an warhol
via facebook: und ein wenig Dali ist auch dabei. siehst du die uhr?
via facebook: du machst das genau richtig, stephan. weiter so!
via facebook: Das ist nichts als die Wahrheit, die ganze Wahrheit…
Cool wie aus dem Schnappschuss ein Kunstwerk geworden ist. Mehr davon!