Als ich die erste Etage im brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst betrat, wurde ich von einer freundlichen Dame begrüßt. Sie zeigte auf einen Raum und erklärte, hier werden Porträts gezeigt. Weiter hinten, sie machte eine entsprechende Geste, geht es um Textilien. Hier drüben, ihr Arm wanderte in die andere Richtung, geht es um Zeichen und Typografie. Da müssen Sie sich ihre eigene Geschichte ausdenken.
Der Name Gil Schlesinger war für mich neu, unverbraucht und ich verband damit keine bestimmte Kunstrichtung. Ich wusste nicht, wann die Arbeiten entstanden sind, und ob der Künstler noch lebt. Ich ging, ohne den Text am Eingang zu lesen in die Räume und ließ die Arbeiten auf mich wirken. Nach der ersten Runde fing ich an nach Orientierung zu suchen, aber außer dem Titel der Ausstellung: “Gil Schlesinger Der Aufstand der Zeichen. Malerei und Zeichnungen” gab es außer den Werken nichts. Keine Titel, keine Jahresangaben, keine Beschreibungen, keine Materialien, keine Einordnung. Mir fiel auf, dass fast alle Bilder im Hochformat und auf einer Art braunen Packpapier gemalt oder gezeichnet waren. Und da ist schon die erste Frage. Ist das Malerei oder Zeichnung? Ich entschied mich für – egal. Die Bilder sind farblich reduziert. Neben dem Hintergrund gibt es oft nur Schwarz, Weiß und Grautöne. Gelegentlich kommt eine oder selten zwei Farben wie Gelb, Orange oder Blau dazu. Viele sind mit Schlesinger 81 signiert, manche nur mit Schlesinger. Meistens unten Rechts, selten aber auch an anderen Stellen. Hat er alle Bilder 1981 hergestellt oder ist das der Name einer Serie, weil 81 für ihn etwas Besonderes ist? Vielleicht hat er sie auch mit 81 Jahren gemacht oder die Serie besteht aus 81 Werken? Ich war 1981 2 Jahre alt. Wenn die Bilder von 1981 sind, dann sehen sie auf jeden Fall jünger aus als ich heute. Vielleicht ist es auch eine Art grafisches Tagebuch? Nach zwei Runden stand ich vor der Frage, entweder gehst du jetzt raus oder du schaust dir die Bilder genauer an und denkst dir deine eigenen Geschichten aus. Ich holte mir ein Museumsklappstühlchen.
Tag 1
Der Tag begann mit einer Katastrophe. Ich muss gestern Abend beim Lesen eingeschlafen sein und dann im Schlaf meine Brille aus dem Bett befördert haben. Beim schwungvollen Aufstehen bin ich zielsicher auf meine Brille getreten. Kracks, Knirsch und während ich das Geräusch der Brillenzerstörung hörte, lief mein Tag vor meinem inneren Auge ab. Erst in die Stadt fahren, irgendein Provisorium besorgen, dann zum Arzt, Rezept besorgen, Sehstärke bestimmen lassen, zum Optiker bei dem es nur hässliche, zu teure oder hässliche und teure Gestelle gibt, dann zum nächsten Optiker und so weiter. Am Ende des Tages habe ich dann eine zu teure und ein bisschen zu hässliche Brille gekauft und muss mich monatelang an mein neues Spiegelbild gewöhnen. Ich taste neben mir auf dem weißen Nachttischchen nach dem Buch von gestern Abend. Ich erkenne kaum etwas von der Schrift. Sieht aus wie Griechisch.
Fortsetzung folgt.
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