Was wäre, wenn man alle Deine Suchanfragen aus drei Monaten hätte? Könnte man Dich identifizieren? Suchst Du nach Dir selbst im Netz? Wonach suchst Du? Kleidergrößen, Medikamente, Kosmetikartikel, Farben, Spielzeug, sexuelle Vorlieben, Möglichkeiten um den Nachbarn zu töten? Wer weiß was Du suchst, kann in Deine Zukunft blicken. Oder in Deine Vergangenheit.
Rückblende
Es war einmal das Jahr 2000. AOL war mit 30 Millionen zahlenden Kunden der größte Internetdienstanbieter der Welt. AOL bot neben Internetzugängen, vor allem über Einwählverbindungen per Modem, auch E‑Mail Konten und ein Portal mit Suchfunktion an. 2002 begann die Talfahrt und 2006 hatte sich die Anzahl der Kunden halbiert. Es wurde Zeit, dass AOL wieder positiv in den Medien erscheint. Doch der Konzern ging einen anderen Weg und veröffentlichte „zu Forschungszwecken“ im August 2006 21.011.340 Suchanfragen von 657.426 Nutzerinnen und Nutzern vom 01. März bis 31. Mai 2006. Zwar wurden die Nutzer durch Ziffernkombinationen anonymisiert, aber es war möglich anhand der Suchanfragen Rückschlüsse auf die Nutzer oder das Umfeld zu schließen. Der Shitstorm war so groß, dass die Datei nach 3 Tagen kommentarlos von AOL gelöscht wurde. Doch was einmal im Netz ist bleibt im Netz und die Daten wurden analysiert. Schon kurze Zeit später meldete die New York Times, dass mehrere Identitäten enthüllt wurden und veröffentlichte mit vorheriger Zustimmung die Identität von BenutzerIn #4417749. Es handelte sich um Thelma Arnold, eine 62 Jahre alte Witwe aus Lilburn im Bundesstaat Georgia. NutzerIn #927 ging mit äußerst bizarren und teilweise kriminellen Suchanfragen, deren Ergebnisse die Grenze des Legalen überschritten, durch die Medien. Die CTO (Technische Verantwortliche im Vorstand) von AOL Maureen Govern trat darauf zurück. Aus internen Kreisen wurde gemeldet, dass der Forscher der die Daten veröffentlicht hat sowie sein Vorgesetzter entlassen worden sind. Gegen AOL wurde Sammelklage erhoben zu deren Ausgang ich keine Informationen gefunden habe.
Gegenwart
Am Wochenende durfte ich die Merz Akademie, Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien in Stuttgart besuchen. Markus Merz führte durch die Abschluss Ausstellung der Studienrichtungen Film und Video, New Media und Visuelle Kommunikation. Die Arbeit von Simon Baer (New Media, Bachelor of Arts) faszinierte mich, da sie die Themen IT, Datenschutz und Kunst sehr anschaulich verknüpfte.
Die Installation greift den AOL Skandal von 2006 auf und konzentriert sich auf NutzerIn #711391. Eine ID zu der es sehr viele Datensätze gibt. Der Erste ist vom 01.03.2006 01:24 AM can not sleep with snoring husband. Kann nicht schlafen, wegen meines schnarchenden Ehemannes. So heißt auch die erste Webseite der Installation http://cannotsleepwithsnoringhusband.online/. Hier werden die Suchanfragen jeweils eines Tages gezeigt, kommt man am nächsten Tag vorbei ohne seine Cookies zu löschen kann man den Tag 2, 3, 4 und so fort erleben und in das Leben einer fremden Person eintauchen. Schnell lernt man sie kennen und fängt an eine Person zu konstruieren. Je mehr Daten man bekommt, desto klarer und vertrauter kommt sie einem vor. Es fühlt sich aber auch sehr befremdlich an, denn man merkt, dass diese Daten sehr privat und nicht für dritte bestimmt sind. Der letzte Eintrag ist vom 27.04.2006 20:05 new reality show redneck eye for the yankee guy.
User #711391
User #711391 wird heiß diskutiert. Es sind Frau und Ehemann die einen Computer benutzen, sie oder er hat ein Affäre wird behauptet. Andere Stimmen sagen, es ist eine Frau mit lesbischen Neigungen die mit einem Mann verheiratet ist, wieder andere sagen es sind Mutter und Tochter, was auch passen könnte. Das Auswandern nach Alaska, Schambehaarung, Pickel, Pornografie und wie man Spottdrosseln tötet sind Themen. Was? Warum sucht jemand nach einer Anleitung zum töten einer Spottdrossel? Bis ich selbst danach suchte. To Kill a Mockingbird ist ein Buchtitel. Die deutsche adaptive Übersetzung lautet: Wer die Nachtigall stört. Puhh, nur eine Fehlinterpretation. So schnell wird aus einem Leser von klassischer Literatur ein Tiermörder. Doch was ist das? Gleich danach die Anfrage how to kill annoying birds in your yards. Wie töte ich nervige Vögel im Garten. Weiter geht es mit: Wie bekomme ich Spottdrosseln aus meinem Garten, wie werde ich lärmende laute Vögel los. Vielleicht doch jemand der Vögel tötet? Keine Ahnung. Vielleicht jemand der zu einem Buch recherchiert oder zu einer Person. So wie ich gerade. Ich habe auch gerade nach diesen Wortgruppen gesucht. Was denkt sich jemand, der sich in 10 Jahren meine Suchanfragen durchließt? Vielleicht bekomme ich deswegen einmal irgendeinen Job nicht? Oder irgendjemand anderes, der für mich gehalten wird? Vielleicht werden auch Versicherungen für mich teurer, weil ich in irgendeine Risikogruppe eingestuft werde?
Die Installation zeigt aber nicht nur eine Webseite mit Suchanfragen, sondern einen ganzen Schreibtisch. Voll mit Schnipseln, CDs, Fotos, Büchern und Magazinen die etwas mit den Suchanfragen von User #711391 zu tun haben könnten oder die einfach nur die Geschichte dekorieren. Wer in allen Suchanfragen der AOL Datei stöbern will kann http://aolusers.memorial/ besuchen. Die zweite Webseite zum Projekt. Doch Vorsicht! Keiner weiß, ob die dort eingegebenen Daten nicht einmal veröffentlicht werden. ;-)
Die Medienkunstverein Zeitung wurde gerade veröffentlicht! https://t.co/8s6sm6jTR1 Vielen Dank an @STKW_
— Medienkunstverein (@Medienkunst) 9. Februar 2016
Es gibt übrigens auch noch ein privates Profil von Simon (https://web.facebook.com/CmonB) und dort findet man auch noch ein Interview zum Projekt: http://blog.geocities.institute/archives/5555
Glückwunsch! Der Beitrag wurde auch in der Zeitung des Medienkunstvereins veröffentlicht: http://paper.li/Medienkunst/1312193378?edition_id=35d72200-cefc-11e5-85a6-0cc47a0d1605